Gedichte - Naturlyrik - Flora Fauna

Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen. Doch im Innern befindet die Kraft der edlern Geschöpfe Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen. Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie: Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich. Doch im Inneren scheint ein Geist gewaltig zu ringen, Wie er durchbräche den Kreis, Willkür zu schaffen den Formen Wie dem Wollen; doch was er beginnt, beginnt er vergebens. Denn zwar drängt er sich vor zu diesen Gliedern, zu jenen, Stattet mächtig sie aus, jedoch schon darben dagegen Andere Glieder, die Last des Übergewichtes vernichtet Alle Schöne der Form und alle reine Bewegung. Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste, Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen, Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben. Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend. Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker, Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher, Der verdient, es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone. Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig, Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse, Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit. Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832 -

RkJQdWJsaXNoZXIy MjA3NjY=